Netzthesen | Thesen für eine vernetzte Welt [1995]

Es wird sehr viel über Netze und dort besonders über Schwierigkeiten, Probleme, Sexuell motivierte Kindesmißhandlung, Kriminalität etc. abgesondert. Fast alles darüber ist – auf deutsch gesagt – Bullshit. Tatsächlich gibt es ein paar Aufgaben zu bewältigen und diese sind gar nicht so verzwickt und schwierig. Es muß nur getan werden – und wenn endlich die Leute gefragt und zusammengebracht werden, die darüber vor- und nachdenken können (also Menschen mit vielfältigsten Erfahrungen aus allen Bereichen), dann ist es einfach, Lösungsansätze und komplette Handlungsanweisungen zu konstruieren.

Diese Version der Netzthesen basiert auf der Veranstaltung Interfiction 1995, (Kassel) und wurde von Herbert A. Meyer angestoßen. Sie stellen nicht mehr als ein Gerüst dar; eventuell sind sogar ein paar diskutierwürdige Ideen dabei. Ursprünglich hatte ich vor, dies vor Veröffentlichung vollständig auszuarbeiten. Aber mir fehlt die Konzentrationsmöglichkeit. Deshalb stelle ich sie jetzt endlich mal als Unfertiges ins Netz. Erstgemeinte Zuschriften werde ich natürlich gerne einarbeiten. Je kürzer ein Statement, desto lieber bearbeite ich es. Lange Texte schreiben kann ich schließlich selber…

Anmerkung Mai 2011: Dieser Text hat historischen Wert – einiges ist schlicht – hm – überholt. Der Text hatte nie den Anspruch,  fertige Antworten zu geben, sondern Hinweise auf das ‘richtige’ Stellen von Fragen zu geben.

  1. Grenzenlose Kommunikation hat ihre Grenzen. Diese Grenzen werden nicht definiert.
  2. Rechte
  3. Wirtschaft und Soziales
  4. Netzpolitisches
  5. Technik
  6. Weiterführendes (Linksammlung, Literaturtips)

1. Grenzenlose Kommunikation hat ihre Grenzen. Diese Grenzen werden nicht definiert.

Dieses ist der wichtigste Satz dieser “Thesen”. Er besagt, daß die grenzenlose Kommunikation ihre Grenzen hat. DIese Grenzen werden aber nicht in Stein gemeißelt – sie werden auch nihct speziell auf die Netze hin definiert. Es gibt genügend Schutzmechanismen in nationaler und internationaler Rechtsprechung, die bei Beleidigungen, Verunglimpfung etc. gelten. Auch ein Gespräch über ein Verbrechen ist noch kein Verbrechen an sich – das Verbrechen ist die Tat. Nicht die Netze sind Schuldig zu sprechen, wenn Bilder von mißhandelten Kindern darüber gehandelt werden, sondern es handelt sich um das Verbrechen von Kindesmißhandlung und dem Handel mit verbotenen Bildern. Auch wenn ich hier das Verbieten von Kommunikation mit dem Verbrennen von Büchern gleichsetzen möchte, so gibt es viele Beispiele, wo etwas besser nicht gesagt oder gezeigt worden wäre. Dies läßt sich nicht durch ein Kommunikationsverbot vermeiden, sondern nur durch Bildung, Ethik, Kultur und dem Bewußtsein, daß die Vermittlung dieser Werte die Hauptaufgabe unseres Lebens auf Erden ist

2. Rechte

  • Das Recht auf Extremes: Extreme Dinge dürfen im Netz passieren.
  • Das Recht zu lügen: Lügen ist dumm. Dennoch müssen wir davon ausgehen, daß viele Menschen lügen. Zum Begreifen, daß, wer lügt, vor allem sich selbst schadet, ist nicht einfach – geben Sie’s zu: Auch Sie lügen hin und wieder. Oder – falls Sie zu den Menschen gehören, die mental schon etwas weiter sind – Sie haben früher hin und wieder gelogen. Das Kommunikationsnetz hat nicht die Aufgabe, zu verhindern, daß Menschen lügen. Aber im Netz können Menschen lernen, daß Lügen mithin recht kurze Laufzeiten haben.
  • Das Recht auf eine Homepage: Jeder Mensch hat das Recht, eine Homepage mit Angaben über sich selbst ins Netz zu stellen. Dies muß ihm — mit beschränkten Umfang und sehr geringen Kosten — ermöglicht werden.
  • Das Recht, lernen zu dürfen: Alle Menschen haben das Recht, lernen zu dürfen.
  • Das Recht auf Dummheit: Menschen dürfen sich im Netz dumm verhalten.
  • Das Recht auf Vergebung: Menschen werden im Laufe ihres Netzlebens viel falsch machen. Sie werden es einsehen. Oder auch nicht. Aber sie alle haben das Recht auf Vergebung – und auch ein Recht auf das Vergessen. In Netzen kann öffentlich und privat kundgetanes bis in die Unendlichkeit hinein aufbewahrt werden. Und wir sind uns sicherlich einig, daß es unfair ist, einem grünen Politiker noch nach 40 Jahren einen Ausspruch vorzuhalten, den er im zarten Alter von 14 Jahren getätigt hat. Die Aufgabe ist: Wir müssen über elektronisches Vergessen und Vergeben – oder auch Vergeben und Vergessen – Gedanken machen.

3. Wirtschaft und Soziales

Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Und: Die Weizenbierübertragung via Netz und PC ist zwar bis ins Detail ausgearbeitet, aber sie funktioniert nur in der Theorie. Es ist zwar ziemlich sicher, daß es den Netzen egal ist, ob wir sie nutzen, aber dennoch wollen sie finanziert sein. Und sie müssen Mehrwert in frei konvertierbarer Währung schaffen. Denn die Kommunikationsgesellschaft ist eben auch deswegen eine Kommunikationsgesellschaft, weil Kommunikation eben der Prozess (nicht: das Produkt!) ist, mit dem dieser Mehrwert geschaffen wird. Deshalb halte ich Ansätze a la “Netze soll der Staat bezahlen” für leicht daneben gegriffen. Und wer weiter denkt weiß auch, daß die Unabhängigkeit der Netze von — hm — nicht ganz sauberen Einflüssen am besten dann gewährleistet ist, wenn jede Bürgerin und jeder Bürger ihren Anteil zum Betrieb der Netzkommunikation auf den großen Geldhaufen legt. Der dann den Vorteil hat, wieder verteilt werden zu können. Diese Sätze sind zwar nicht unbedingt in WIWI-Studentendeutsch verfaßt, aber ich denke, sie treffen’s schon ganz gut.

  • Finanzen: “Ohne Los kein Moos”, ist einer meiner Lieblingswerbeslogans. Er warb für Rubbellose. Nun, die Wahrscheinlichkeitsrechnung sagt sehr deutlich, daß es keinen Sinn macht, jeden Tag ein Rubbelos zu kaufen, um das vernetzte Miteinander zu finanzieren. Deshalb muß da schon etwas herzhafteres her: Engagement und Geld. Ach was, setzen wir Geld lieber an den Anfang. Engagement ist ohne Geld auch noch nicht einmal die halbe Miete.
    • Vergütung von Leistung
    • Netzgeldverbünde: Jeder Mensch hat das Recht, für seine inhaltliche Leistung im Netz bezahlt zu werden. Dies kann auf der einen Seite durch Belegung ihrer oder seiner Artikel mit Entgelten oder durch Anstellung als Publizist in einem Netzort. Über Anstellungen kann ggf. der Beirat entscheiden oder Entscheidungsgrundlagen beschleißen.
    • Bruttosozialproduktgebundene Tarifgestaltung: Die Tarifgestaltung von Netznutzung muß in den verschiedenen Ländern an das Bruttosozialprodukt angepaßt sein. So zahlen Menschen in ‘reichen’ Ländern mehr, in ‘ärmeren’ Ländern weniger.
      • Solidaritätsabgabe für schwächere Regionen: Teile der Einnahmen aus den Netznutzungen werden in einen globalen Topf gelegt und aufgeteilt, so daß ein Investitionsfluß von reich nach arm laufen kann.
    • Einführung dezentraler Abrechnungsstrukturen: Auch zum Zwecke der Abrechnung dürfen Daten von Netzteilnehmerinnen und -Teilnehmern nicht zentral zusammengeführt werden.
    • ‘Connectivity’ nicht auf SteuerzahlerInnen abwälzen: Die Individuelle Connectivity darf nicht aus dem Steuerhaushalt bezahlt werden.
    • Kontrahierungszwang für BetreiberInnen: Ein Unternehmen hat keine Vertragsfreiheit, was den Anschluß von Menschen oder Organisationen betrifft. Es muß jede und jeden ans Netz anschließen.
    • Netzgeld: Es ist ein Netzgeld zu schaffen, das Bargeldgleich funktioniert. Kein Mensch muß sich als ‘Anbieter’ definieren, um Geld einzunehmen. Dieses Kleingeld muß es möglich machen, daß auch Kleinstbeträge (z.B. 0,000000000023 DM) abrechenbar sind.
      • Verhinderung von Währungsspekulationen | Bei endgültiger Anerkennung von elektronischen Signaturen, muß Gewährleitet sein, daß Währungsspekulationen und ähnliches nicht möglich oder verboten sind.
    • Staat nicht aus der Verpflichtung entlassen: Auch wenn privat(wirtschaftlich)es Kapital zur Finanzierung der Lösungen der in diesen Thesen aufgeführten Aufgaben wünschenswert ist, so darf der Staat nicht aus seiner Verpflichtung entlassen werden, an der Klärung auch finanziell beteiligt zu werden. Zur Erinnerung: Wir zahlen Steuern dafür, daß bestimmte, alle Menschen betreffende Aufgaben solidarisch gelöst werden können.
  • Gemeinschaft / Gesellschaft: Es gibt keine “Virtuelle Gemeinschaft”. Alles virtuelle ist nichtexistent – müßig und spannend, wie die Frage, ob wir alle wirklich Leben, oder ob unsere Existenz nur ein Traum eines hungrigen grün-schleimigen Monsters sei. Auch Netzgemeinschaft ist real. Und sie wird ihre Realität in gesellschaftlicher Struktur abbilden.
    • Pflichten: Verantwortung tragen.
      • Die Pflicht, zu senden: Rolf Lobeck (Kunstprofessor an der Gesamthochschule Kassel) beschrieb schon 1982 in seinem Text “Kommunikationszwang” die Sendepflicht. Diese Pflicht (Nachbarn nehmen Nachbarn in kompromittierenden Situationen auf und senden das…) gilt es zu erforschen: Besteht eine Verpflichtung darüber, daß mithin zwar nicht der Privatmensch, aber doch Firmen, Institutionen, Regierungen etc. eine Verpflichtung zum Senden (und Empfangen!) haben?So darf ich als Einwohner einer Stadt doch bitte erwarten, daß ich Bekanntmachungen im Netz finde – und zwar nicht nur im Web-Netz, sondern ebenso in entsprechenden Newsgroups, damit ich auch ohne Standleitungen am öffentlichen Leben beteiligt sein kann. Auch die Meinungsfindung von Gremien, Ausschüssen etc. gehört in vielen Fällen transparent ins Netz gestellt oder gesendet. Was natürlich auch bedeutet, daß Bundestagsabgeordnete neben der persönlichen Referentin oder Referent auch noch die Kommunikationsexperten benötigen, die sich — innerhalb einer partizipatorischen Demokratie — mit der Kommunikation beschäftigen.
      • Archivierung: Veröffentliche Nachrichten müssen wiedergefunden und zitiert werden können. Das mag vielleicht nicht für jede Homepage gelten, aber für veröffentlichte Artikel von ONLINE-Zeitungen gilt das auf jeden Fall. Auch Newsgroups gehören archiviert — nichts (auch nichts strafbares) darf aus einer Newsgroup gelöscht werden. Archivierungsaufgaben können (auf jeden Fall bei Newsgroups) von der deutschen Bibliothek vorgenommen werden. Über die Archievierungspflicht bei öffentlichen Webservern müssen wir dann doch noch ein bißchen nachdenken…
    • Mediencafés als kulturelle Treffpunkte: Mediencafé heißt nicht ‘Internet-Café”. Ich hoffe, daß sich diese Unart bald wieder erledigt und ich die ersten zwei Sätze in diesem Abschnitt somit wieder streichen kann. Hier geht es um mehr, als den Menschen zum Infoklick hilfreich die Maus hinzuhalten. Ich stelle mir her mehr eine Mischung aus Kompetenzzentren, Zentren für Alternierende Telearbeit und Bürgerinnen- und Bügertreff vor mit Kindergarten, Raum der Stille, richtig schön geistig-elitären und gleichzeitig populären Veranstaltungen, Seminaren, Kongressen etc. Sozusagen der Pilz im Myzel. Übersetzt: Der Fruchtkörper im Netz / in den Netzen. Unter dem schönen Schirm des Pilzes sind wir sicher vor Unwetter und wir können uns face-2-face miteinander austauschen und brauchen nicht alles selbst zu lesen und zu schreiben.
      • (Globaler Dorfbrunnen):Diese Orte können auch “Reseau d’Ameublement”, Myzel, Pilz oder ‘Ganz Anders’ heißen. Oder eben auch: Globale Dorfbrunnen. Derer es in den Netzen ganz ganz viele gibt, und alle stehen auf ganz geheimnisvolle Weise miteinander in Verbindung. Wire das eben so ist, mit den ewigen Netzen des Lebens.
      • Face-to-face-Kommunikation ist zu fördern: Netzkommunikation kann nur ein Vehikel sein. Persönliche Begegnungen zwischen Menschen — auch jenseits von Massenereignissen wie Fußball oder Konzerten — ist zu fördern. So müssen weiterhin öffentliche Plätze (mit Brunnen und Sitzbank) und Begegnungsorte geschaffen werden. Speziell die Begegnung von kleinen Gruppen ist zu fördern — sie bilden mit die wichtigste Keimzelle der gesellschaftspolitischen Meinungsbildung.

4. Netzpolitisches

Netze an sich sind chaotisch. Das ist gut so. Dennoch gibt es einen Bedarf, innerhalb dieser Chaotik Strukturen zu bilden, Ruhepunkte zu finden und Verläßliches zu gründen. Wir in den Netzen müssen uns Gedanken machen über Parlamente, Räte, Wahlen und Steuern. Dabei müssen wir stets an das Kleine denken, ohne aber das Gesamte aus den Augen zu verlieren. Wer allerdings nur das Gesamte im Auge hat und das Kleine nicht achtet, wird scheitern.

  • Globale Rechtssprechung
  • Minderheitenschutz / Mehrheitenschutz
  • Keine ‘Guardian Angels’: Es darf keine eigenständige Netzpolizei geben. Was aber nicht ausschließt, daß es Abteilungen bei der Polizei gibt, die sich auf Ermittlungen im Netzbereich spezialisiert.
  • Das Recht auf Netzinseln: Jede Gruppe von Menschen hat das Recht, sich Kommunikationsnetze aufzubauen, die von anderen Augen abgeschirmt sind.
  • Pflicht zur transparenten Firmengestaltung: “Wenn Du das schreibst, haben Deine Thesen keinen Erfolg”, sagte mir der HANF!-Redateur Jörg Jenetzki. Aber genau dies ist ein wichtiger Punkt: Jeder Mensch muß den Kommunikationsstrukturen, die er verwendet oder verwenden muß vertrauen können. Die Rechenzentrum müssen aus den Betonburgen herausgeholt und hinter Glas oder Gitter einsehbar aufgestellt werden. Jeder Mensch muß das Recht haben, jederzeit über Datenfluß und Manipulationsmöglichkeiten Bescheid zu wissen. Es ist verhängnisvoll, wenn Menschen sich nicht mehr trauen, einen Kommunikationskanal zu benutzen — sie können — etwas weitergedacht — daran verhungern. (Buchtip: John Brunner, Der Schockwellenreiter)
  • Schweigepflicht / Zeugnisverweigerungsrecht: Ein Kommunikationsunternehmen hat viele Einblicke in das Leben von Menschen. Es ist vergleichbar mit dem Verhältnis zwischen Mensch und Arzt. Deshalb müssen Kommunikationsarbeiter dem Schweigen verpflichtet sein.

5. Technik

Das Unwichtigste. Aber auch sie ist wichtig. Hardware und Software gießen veraltete Vorstellungen in einem nahezu dissipativen Prozess in unser aller Leben. Also umso mehr muß mitgedacht und mitgemacht werden. Bisher nehmen wir die Netztechnik entgegen und überlegen uns, was wir damit machen können. Dabei kommen so seltsame Sachen bei ‘raus, wie ONLINE-Magazine, die nichts mehr (aber oft weniger) als Abbildungen von zweidimensionalen umblätterbaren Papiermedien sind. Der bessere Ansatz wäre, sich zu überlegen, was den bitteschön zu machen sei — und dann die entsprechende Software (ggf. auch Hardware) zu gestalten. Eine schöne Utopie? Keine Angst, es funktioniert. Ich habe es ausprobiert.

  • Protokoll-Verschlüsselung | Ein Beispiel: Kaum ein Header von eMail muß im Klartext über das Netz geschickt werden. Warum wird es dann doch getan? Weil …

6. Weiterführendes (Linksammlung, Literaturtips)

Schulz von Thun, Friedemann: Miteinander reden, Störungen und Klärungen. Allgemeine Psychologie der Kommunikation

Pusch, Luise F Das Deutsche als Männersprache

FoeBuD e.V. (Hrg.), PGP, Pretty Good Privacy, Das Verschlüsselungsprogramm für Ihre private elektronische Post

Brunner, John: Der Schockwellenreiter, Heyne (vergriffen)

Bis jetzt immer lesenswert: TELEPOLIS